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Bis zum 18. Februar konnten sich Anleger über einen Wertzuwachs europäischer Aktien von fast 13 Prozent seit Jahresbeginn freuen. US-Aktien lagen zum gleichen Zeitpunkt nur 4 Prozent im Plus. In den seitdem vergangenen knapp zehn Monaten drehte sich das Muster wieder um: Europäische Aktien stagnierten nahezu, während US-Aktien um 10 Prozent stiegen.
Diese Entwicklung spiegelt sehr gut die aktuellen Verhältnisse in Europa wider: Ausschlaggebend für die gute Performance europäischer Aktien zum Jahresbeginn war die Erwartung, dass die neue deutsche Bundesregierung die Herausforderungen, mit denen Europa (und Deutschland) konfrontiert ist, besser angehen werde als die vorherige Ampel-Regierung. Diese Annahme wurde zunächst erfüllt: Erstens stellte sie mit der Aufweichung der Schuldenbremse und der Planung neuer Sonderschulden eine deutlich expansivere Fiskalpolitik in Aussicht. Positive Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit Gewinnchancen für europäische Unternehmen waren damit programmiert. Zweitens bemühte sich Kanzler Friedrich Merz persönlich intensiv um eine Neubelebung europäischer Zusammenarbeit und insbesondere der deutsch-französischen Achse.
Spätestens mit dem von US-Präsident Donald Trump so genannten „Liberation Day“ am 2. April wurde aber auch klar, dass die Herausforderungen für die europäische Politik weiter steigen. 15-prozentige Importzölle der USA, die Drohung weiterer Zollrunden (etwa für pharmazeutische Erzeugnisse), der Fortgang des Krieges in der Ukraine, Drohnenangriffe Russlands und grundsätzliche Zweifel an der Verlässlichkeit der USA als strategischer Partner: Immer wieder wurden europäische Defizite deutlich, immer klarer der politische Handlungsbedarf. Es konnte deshalb kaum überraschen, dass die internationalen Investoren in einen Abwartemodus wechselten, um zu sehen, ob die Politik diesen Notwendigkeiten gerecht wird.
Die Antwort ist bislang ein sehr klares „Nein“. In der deutschen Finanzplanung sinken die Investitionsausgaben im Kernhaushalt des Bundes in den kommenden Jahren um 16 Milliarden Euro pro Jahr – in dieser Größenordnung dienen die Sonderschulden also lediglich dazu, Haushaltslöcher zu stopfen und notwendige Strukturreformen zu vermeiden. Was letztere betrifft, mangelt es inzwischen nicht an allerlei Absichtsbekundungen und längeren Listen von Einzelmaßnahmen, um Bürokratie abzubauen und die Digitalisierung voranzutreiben. Für die Reform der Sozialversicherungssysteme wiederum sollen Kommissionen eingesetzt werden. Steuerliche Entlastungen von Bürgern und Unternehmen stehen hingegen in den Sternen. Was weiterhin fehlt, ist ein klares und für die Akteure glaubhaftes Signal dafür, dass die Regierung Wachstumskräfte freisetzen und Verteilungsdiskussionen vorerst zurückstellen will. Die anhaltend schlechte Stimmung dürfte hier ihre wesentliche Ursache haben.
Auf europäischer Ebene sieht es nicht besser aus: Den Bekundungen europäischer Politiker für veränderte Prioritätensetzungen folgen bislang weder konkrete Ideen noch gesamteuropäische Initiativen. Wie die europäische Sicherheit gegen Angriffe von außen schnell wiederhergestellt, wie der riesige Nachholbedarf in Sachen Künstliche Intelligenz und Digitalisierung verringert, wie strategische Abhängigkeiten behoben, wie die Chancen für Start-ups verbessert und wie ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt geschaffen werden soll – all das liegt nach wie vor weitgehend im Dunkeln. Der ehemalige italienische Ministerpräsident und vorherige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi fasste dies erst vor wenigen Tagen in die Worte, das europäische Wachstumsmodell verliere weiter an Bedeutung, die Schwachstellen nähmen zu und es gebe weiterhin keinen klaren Weg, um die erforderlichen Investitionen zu finanzieren.
2026 könnte für Europa zu einem Schicksalsjahr werden: Entweder es gelingt, die Herausforderungen konstruktiv anzugehen, mit einem eindeutigen Fokus auf Wettbewerbs- und Verteidigungsfähigkeit, die Weiterentwicklung des Binnenmarktes und eine grundlegende Reform der europäischen Entscheidungsmechanismen. Dann wäre ein nachhaltiger, kräftiger Aufschwung die Folge, der auch europäische Aktien zu den (Überraschungs-)Gewinnern des Jahres machen könnte. Oder Europa wird endgültig abgehängt und zum Spielball fremder Mächte ohne eigene Rolle in der neu entstehenden Weltordnung. Eine weiterhin unbefriedigende Entwicklung europäischer Aktien wäre dann wahrscheinlich noch das geringste Problem. Es dürfte kaum Spielraum dazwischen geben – Europa, seine Regierungen und letztlich seine Bürger werden sich entscheiden müssen.